„Mit Sexualität aus der Schmerzwelt stehlen“

Klagenfurt (pts019/20.05.2016/11:55) – Für den österreichischen Politikwissenschaftler und Schriftsteller Erwin Riess ist „Sexualität ein Menschenrecht, das für alle gelten muss“. Gerade in Österreich, meint der Autor, der selbst seit mehr als 30 Jahren im Rollstuhl sitzt, „halten sich überkommene Vorstellungen was die Sexualität von behinderten und kranken Menschen betrifft aber besonders lange.“

Während Behinderten Sexualität oft gänzlich abgesprochen wird, wird das Thema bei Kranken zumindest weitgehend tabuisiert. Damit wollen Dr. Riess und sein Mitherausgeber, der Schmerzspezialist Prim. Univ. Prof. Dr. Rudolf Likar, in ihrem anlässlich der Jahrestagung der Österreichischen Schmerzgesellschaft vorgestellten Buch „Unerhörte Lust“ aufräumen. Das 250 Seiten starke Werk versammelt Beiträge von Medizinerinnen und Medizinern, die sich mit einzelnen Krankheitsbildern im Kontext der Sexualität beschäftigen und Texte und Interviews mit behinderten Menschen in Österreich und Deutschland, die sich mit erstaunlicher Offenheit der Frage nach der Lust stellen.

Schmerz kann Lust töten

Wie diverse Studien übereinstimmend zeigen, leidet mehr als die Hälfte der chronischen Schmerzpatienten darunter, dass Schmerzen „das Sexualleben entscheidend verschlechtert haben.“ Acht von zehn Patienten mit chronischen Rückenschmerzen klagen über ganz konkrete sexuelle Probleme, bei einer europaweiten Untersuchung unter Palliativpatienten gab rund ein Fünftel an, „aufgrund der körperlichen Beeinträchtigungen gar keine sexuellen Beziehungen mehr zu haben.“

Die Gründe dafür sind vielfältig und schaukeln sich oft in einer Negativspirale auf: Dass schon die körperlichen Schmerzen nicht gerade lustfördernd sind, ist naheliegend. Dazu kommen noch psychische Probleme, wie die Veränderungen des Körperbewusstseins, Schamgefühle und in vielen Fällen depressive Symptome. „Viele“, weiß Riess auch aus eigener Erfahrung, „haben die Tendenz, sich zu verkriechen und Angst davor, den eigenen, plötzlich als unzulänglich empfundenen Körper mit einem anderen zusammen zu bringen.“

Die Nebenwirkungen vieler in der Schmerztherapie eingesetzten Medikamente tun dann das Übrige: „Opioide greifen massiv in den Hormonhaushalt ein und können so die Libido noch weiter verringern“, erklärt Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar. Auch gegen die psychischen Begleiterscheinungen verschriebene Antidepressiva sind der Sexualität in vielen Fällen nicht gerade zuträglich. Gerade bei den häufig verschriebenen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) stehen sexuelle Dysfunktionen weit oben auf der Liste der möglichen Nebenwirkungen.

Unumkehrbar sind solche Probleme selten. „Angefangen vom Umstellen der Medikation auf Medikamente mit geringeren sexuellen Nebenwirkungen, über Dosisanpassungen, bis zu Kombinationen von entsprechenden Medikamenten, die sexuelle Funktionsstörungen bessern können, gibt es eine breite Palette von Möglichkeiten, wieder mehr Lust ins Schlafzimmer zu bringen“, plädiert Schmerzspezialist Prof. Likar dafür, gemeinsam mit Arzt oder Ärztin nach dem richtigen Medikamenten-Mix zu suchen. Richtig behandelt, können sexuelle Dysfunktionen selbst bei Krebserkrankungen nach Operationen, Chemotherapie und Bestrahlungen eine gute Prognose haben.

Offen über Sex reden

Freilich setzt das ein offenes Gespräch zwischen Patienten und ihren Ärzten und Ärztinnen voraus. „Über die Sexualität kranker und behinderter Menschen wird aber einfach immer noch kaum gesprochen. Da gibt es einfach noch zu große Berührungsängste – und zwar auf beiden Seiten“, weiß Riess.

Wie fatal sich diese Schweigespirale auswirkt, zeigte etwa eine Umfrage unter Rückenschmerz-Patienten: Zwar wollten 93 Prozent mit ihren Ärzten auch über die sexuellen Beeinträchtigungen und mögliche Alternativen in ihrem Sexualleben reden; 74 Prozent erwarteten sogar ganz konkrete Ratschläge zur Vermeidung von Schmerzen beim Sex. Dennoch hatten 66 Prozent das Thema noch nie mit ihrem Arzt oder ihrer Ärztin erörtert. Eine italienische Untersuchung kam zu ähnlichen Ergebnissen: Weil der Großteil der Patienten zwar über die Probleme im Schlafzimmer reden wollte, aber nie die richtigen Worte fand, wurde das Thema in acht von zehn Fällen völlig totgeschwiegen.

Umgekehrt sind auch Ärztinnen und Ärzte nur selten bereit, die Initiative zu ergreifen. So zeigte eine in den Niederlanden durchgeführte Untersuchung, dass zwar mehr als 85 Prozent der befragten onkologischen Chirurgen der Meinung waren, dass auch Auswirkungen der Behandlung auf die Sexualität Teil des Aufklärungsgespräches sein sollten. Aber nur jeder Dritte sprach zumindest gelegentlich darüber und nur jeder Zehnte tat dies regelmäßig.

Neben dem üblichen Zeitmangel, gepaart mit Scham und falsch verstandener Diskretion, waren viele Mediziner der Ansicht, dass behinderte oder an starken Schmerzen leidende Patienten ohnehin keine sexuellen Bedürfnisse haben. Studien belegen aber das Gegenteil. Selbst bei schwerstbehinderten Menschen und sterbenskranken Patienten bleibt – bei entsprechender Behandlung – die sexuelle Lust erhalten.

Um diese Einsichten zu verbreiten und die Spirale des Schweigens zu durchbrechen, hat Klinikvorstand Rudolf Likar in diesem Jahr eine eigene Session der ÖSG-Jahrestagung dem Thema „Schmerz und Sexualität“ gewidmet und Erwin Riess als Vorsitzenden des Panels gewinnen können.

Neue Wege der Lust entdecken

Dabei wird er auch Studien und Fallbeispiele zitieren, die zeigen, dass es auch für schwer schmerzgeplagte Patienten viel öfter als gedacht möglich ist, ihre Sexualität auszuleben. So widmet sich etwa ein ganzes Kapitel der „Unerhörten Lust“ den Patienten mit chronischen Rückenschmerzen. In vielen Fällen reichen dabei schon einfache Maßnahmen wie die Wahl der richtigen Matratze, das Vermeiden bestimmter Körperstellungen oder schlicht ein Polster an der richtigen Stelle, um wieder zu einem erfüllten Liebesleben zu finden.

„Behinderte und beeinträchtigte Menschen müssen erst Berge von paternalistischen Schutt wegräumen, bevor sie sich ihren eigenen Wünschen und Sehnsüchten gemäß entwickeln können“, schreiben die Herausgeber im Vorwort des neuen Buches. „Aber es lohnt sich“, versucht Riess Betroffene zu ermuntern, „nach Wegen zu suchen, wie man sich durch Sexualität für kurze Zeit aus der Schmerzwelt stehlen kann“.

Nicht zuletzt, weil – wie einige der von Riess und Likar ausgewählten Buch-Autoren anmerken – eine aktiv gelebte Sexualität sogar selbst zur Schmerzlinderung beitragen kann: Bei körperlicher Erregung wird in den Gehirnzellen das Hormon Oxytocin freigesetzt, das den Stress- und Angstpegel senkt und das Schmerzempfinden verringert. Die Studien des Sexualforschers und Neurologen Beverly Whipple haben gezeigt, dass die Schmerztoleranz nach dem Orgasmus bei Frauen um 75 Prozent höher ist. Auch Männer empfinden Schmerzen nach dem Höhepunkt weniger stark.

Für Riess bietet der Zwang, sich mit der eigenen Sexualität zu befassen, zudem eine doppelte Chance. Zum einen zwingen Behinderung und behindernder Schmerz viele, neue Spielarten der Sexualität zu erkunden. Zum anderen kann das offene Gespräch mit dem Partner oder der Partnerin auch dazu führen, alte Probleme und sexuelle Disharmonien aus den „gesunden Jahren“ aufzuarbeiten. „Ich habe das am eigenen Leib erfahren“, so Riess. „So eine schöne und angstfreie Sexualität habe ich in meinem früheren Leben nicht gekannt“.

Das Buch: Rudolf Likar/Erwin Riess (Hrsg.) Unerhörte Lust Zur Sexualität behinderter und kranker Menschen Otto Müller Verlag 251 Seiten, gebunden ca. 24,80 Euro * E-Book: ca. Euro 18,99 ISBN: 978-3-70131-238-2

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