Amsterdam (pts006/26.06.2017/08:00) – Epilepsie wird zu Unrecht für eine seltene Erkrankung gehalten: Etwa zehn Prozent aller Menschen erleiden in ihrem Leben einen einzelnen, isoliert auftretenden epileptischen Anfall. Bei drei bis fünf Prozent kommt es zu Phasen, in denen diese Funktionsstörungen des Gehirns wiederholt auftreten. Akut erkrankt sind 0,6 bis 0,8 Prozent der Bevölkerung. Dazu kommt eine vermutlich beachtliche Dunkelziffer.
Die gute Nachricht: Mittlerweile steht eine breite Palette sehr guter Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. In den letzten 20 Jahren wurden etwa 20 Medikamente eingeführt, die für die viele Betroffene deutliche Fortschritte gebracht haben. Heute kann mit den zur Verfügung stehenden Antikonvulsiva bei mehr als zwei Drittel der Betroffenen das Therapieziel einer anhaltenden Anfallsfreiheit erzielt werden, bei einem Teil kann die Medikation nach einiger Zeit sogar wieder abgesetzt werden.
Neurochirugie immer schonender möglich
„Bisher hat die enorme Entwicklung neuer Antiepileptika aber keinen Durchbruch gebracht“, so Prof. Christian E. Elger von der Klinik für Epileptologie in Bonn auf dem Kongress der European Academy of Neurology in Amsterdam. „Zwar leben die Patienten, die darauf ansprechen, heute nebenwirkugsfreier und sicherer. Die Wirksamkeit wie auch die Rate an Pharmakoresistenzen hat sich dadurch aber leider nicht verbessert.“
Tatsächlich heilbar sind Epilepsien nur durch chirurgische Eingriffe. Dank der Fortschritte in der bildgebenden Diagnostik und den neurochirurgischen Techniken, können immer mehr Patienten mit immer besseren Langzeiteffekten operiert werden. „Heute können wir zehn bis 20 Prozent der Patienten, die nicht auf Medikamente ansprechen, mit der Entfernung der anfallverursachenden Gehirnläsionen vollständig heilen“, so Prof. Elger. „Leider wird von dieser Maßnahme noch viel zu wenig Gebrauch gemacht. Bei Patienten, die fünf Jahre erfolglose Therapieversuche hinter sich haben, sollte ein solcher Eingriff immer erwogen werden. Bei Kindern sogar früher“. Möglich ist das aber nur unter zwei Voraussetzungen: Zum einen darf die sogenannte Anfallsursprungszone in keinem der sensiblen Gehirnteile liegen – zum anderen müssen diese winzigen Läsionen mithilfe einer Kernspintomographie erst entdeckt werden. „Diese Diagnostik sollte unbedingt in einem spezialisierten Zentrum erfolgen“, rät Prof. Elger. „Wir entdecken bei der Nachuntersuchung von angeblich unauffälligen MRTs in zwei Drittel der Fälle doch eine Läsion.“
Erweitert könnte der Einsatzbereich durch die stereotaktische Laser-Thermokoagulation werden, bei der durch hochfrequente elektrische Ströme ein lokal eng begrenzter Hitzebereich erzeugt wird. „Dadurch kann pathologisches Gewebe auf sanfte Weise zerstört werden“, fasst Prof. Elger die bisherigen Erfahrungen zusammen. „Anders als bei den Standardverfahren ist dafür keine große Schädelöffnung nötig und auch bei tiefsitzenden Läsionen können Schäden am Kortex vermieden werden. Dadurch wird ein Einsatz auch in der Nähe von eloquenten Hirnarealen möglich.“
Eine andere Möglichkeit, gravierende Verletzungen in sensiblen Bereichen des Gehirns zu vermeiden, stellt die Neuromodulation mit niedrigdosierter Hochpräzisionsbestrahlung dar, die in ähnlicher Form auch zur Behandlung von Tumoren angewandt wird. In einer sehr kleinen Studie, in der nur sechs Patienten mit zwei unterschiedlichen Bestrahlungsverfahren (hypofractionated stereotactic radiotherapy; hfSRT und low-dose radiosurgery; SRS) behandelt wurden, brachte die völlig nebenwirkungsfreie Therapie bei zwei Patienten die Anfälle völlig zum Verschwinden, bei einem weiteren konnten sie zumindest deutlich reduziert werden. Bei den drei verbleibenden zeigten sich dagegen keine nachhaltigen Effekte. „Noch gibt es über den Einsatz von stereotaktischer Radiotherapie zur Epilepsiebehandlung erst wenige Studien“, weiß Prof. Elger. „Die ersten Erfahrungen zeigen aber, dass sie in Fällen wo klassische Verfahren neurologische Defizite verursachen könnten, eine schonende Alternative sein können. Der einzige Nachteil ist, dass sich der volle Effekt eventuell erst nach einem Jahr oder länger einstellen kann.“
Anfallfreiheit als Top-Priorität
„Viele der heute verfügbaren Medikamente haben ein neues Wirkungsprofil und haben in Studien auch mit schweren und seltenen Epilepsieformen viel versprechende Resultate geliefert“, sagt anlässlich des EAN-Kongresses Meir Bialer, David H. Eisenberg Professor für Pharmazie an der medizinischen Fakultät der Hebrew University in Jerusalem. „Allerdings müssen sich die Medikamente, die in den letzten ein oder zwei Jahren zugelassen wurden, auch noch im klinischen Alltag bewähren, der sich oft erheblich von den Studienbedingungenunterscheidet.“
Er betont die Notwendigkeit neuer medikamentöser Therapien: „Natürlich ist es eine enorme Verbesserung, wenn es gelingt, die Anfallshäufigkeit zu reduzieren“, so der vielfach ausgezeichnete Experte. „Aber selbst wenn jemand nur einen Anfall pro Jahr hat, darf er kein Auto lenken, und da gibt es noch viele andere persönliche und soziale Einschränkungen.“ Davon abgesehen, führen pharmakoresistente Epilepsien auch zu erheblichen medizinischen Problemen. Verletzungen, Unfälle, aber auch Komorbiditäten wie Depression, Angst und Suizidalität tragen dazu bei, dass Menschen mit Epilepsie im Vergleich zur Gesamtbevölkerung eine dreimal so hohe Sterblichkeit aufweisen.
Dazu kommen – gerade in schweren Fällen mit hochdosierter Langzeitmedikation – mitunter erhebliche Nebenwirkungen der Medikation, die von Veränderungen im Blutbild über Leberschäden bis zu psychischen Störungen reichen können. Bei Kindern beeinflusst die Erkrankung zudem die gesamte weitere Entwicklung ungünstig. „Daher muss es unser erklärtes Ziel und eine wichtige Priorität bleiben, Medikamente zu entwickeln, die allen Patienten eine wirkliche Anfallsfreiheit garantieren“, so Prof. Bialer. „Außerdem ist es wichtig, dass die Medikamente minimale Nebenwirkungen und Interaktionen aufweisen. Schließlich sind die meisten Epilepsiepatienten ein Leben lang auf ihre Medikamente angewiesen.“
Cannabinoide als Hoffnungsträger
Zu fast 20 Substanzen, die Potenzial für die Behandlung bisher therapierefraktärer Epilepsien haben, laufen aktuell weltweit präklinische Studien oder Untersuchungen der Phasen I bis III der klinischen Entwicklung. Besonders weit gediehen sind dabei die Erforschung von Neurosteroiden wie zum Beispiel Allopregnanolon und Cannabidiol, einer nicht psychotropen Komponente von Cannabis. Letzteres, der nicht psychotrope Bestandteil der Cannabispflanze, hat in einigen Untersuchungen insbesondere bei Kindern mit pharmakoresistenten und seltenen Epilepsieformen wie dem Dravet-Syndom oder dem Lennox-Gastaut-Syndrom vielversprechende Ergebnisse geliefert. Im Schnitt ließen sich die Anfälle in einer Fallstudie damit um rund die Hälfte reduzieren, neun Prozent der Patienten blieben sogar völlig anfallsfrei. „Diese Substanzen sind nicht für den breiten Einsatz bei allen Epilepsieformen gedacht“, so Prof. Bialer, „Sie scheinen aber gerade für diese schweren Fälle bei Kindern und Jugendlichen bis etwa 20 Jahre mögliche therapeutische Optionen zu sein“. Experten rechnen noch 2017 mit der Zulassung von Cannabidiol für diese Indikation durch die US-Arzneimittelbehörde FDA, die EU-Zulassungsbehörde EMA könnte bald folgen.
Quelle: Bialer et al. Progress report on new antiepileptic drugs: A summary of the Thirteenth Eilat Conference on New Antiepileptic Drugs and Devices (EILAT XIII). Epilepsia 2017, 58:181-221; Bialer et al. Seizure defection and neuromodulation: A summary of the Thirteenth Eilat Conference on New Antiepileptic Drugs and Devices (EILAT XIII). Epilepsy Res 2017, 130:27-36; Hoppe et al, Stereotactic laser thermocoagulation in epilepsy surgery. Nervenarzt 2017, 88(4); Boström et al. Low-dose radiosurgery or hypofractionated stereotactic radiotherapy as treatment option in refractory epilepsy due to epileptogenic lesions in eloquent areas. Preliminary report of feasibility and safety. Seizure 2016, 36
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