Amsterdam (pts008/25.06.2017/11:00) – In weiten Teilen der Bevölkerung wird Palliativmedizin gemeinhin mit der Pflege von Krebspatienten im Endstadium gleichgesetzt. „Die Bedeutung dieser symptomlindernden und Lebensqualität-erhaltenden Behandlung geht aber weit über das end of life treatment in der Onkologie hinaus“, erklärt Prof. David Oliver von der Universität Kent in Canterbury, Co-Chair des EAN Scientific Panels on Palliative Care. In der WHO-Definition für Palliativbetreuung ist aus gutem Grund ganz generell von einer „lebensbedrohlichen Erkrankung“ und nicht nur von Krebserkrankungen die Rede. „Palliative Betreuung in der Neurologie kann für Patienten und ihre Familien auch viel früher im Krankheitsprozess, bei manchen Krankheiten mit einer sehr kurzen Prognose sogar schon ab der Diagnosestellung hilfreich sein“, betont Prof. Oliver.
Hoher Bedarf an Palliativmedizin in der Neurologie
Gerade neurologische Erkrankungen gehen sehr oft mit schweren und beeinträchtigenden Symptomen einher und der Bedarf an palliativer Betreuung ist daher groß. „Es gibt viele progrediente neurologische Erkrankungen, die wir nicht heilen sondern im besten Fall ihr Fortschreiten verlangsamen können und wo eine palliativmedizinische Betreuung erheblich dazu beitragen kann, dass die Betroffenen besser mit ihren Symptomen und Problemen zurechtkommen“, so Prof. Oliver. Das gilt nicht nur für Patienten mit Multipler Sklerose, Multisystematrophie, Amyotropher Lateral Sklerose und anderen degenerativen Schädigungen des Nervensystems, sondern etwa auch für Demenz-, Huntington- oder Parkinson-Kranke sowie für Patienten, die mit den Folgen schwerer Schlaganfälle, Gehirnentzündungen oder Hirntumore leben.
Konsensuspapier fasst Evidenz zusammen
Während die Vorstellungen darüber, was onkologische Patientinnen und Patienten über die kurative Behandlung hinaus brauchen, sehr konkret sind, ist das diesbezügliche Bewusstsein bei neurologischen Krankheitsbildern weniger ausgeprägt. „Noch ist die wissenschaftliche Evidenz für Interventionen in der Neuro-Palliation begrenzt“, erklärt Prof. Marianne de Visser vom Academic Medical Centre der Universität Amsterdam, Co-Chair des EAN Scientific Panels on Palliative Care. „Deshalb ist es von besonderer Bedeutung, dass wir nun auf ein gemeinsames Konsensuspapier der European Association for Palliative Care EPAC und der European Academy of Neurology EAN zurückgreifen können, dass auf Basis der verfügbaren Daten die wesentlichen Empfehlungen zusammenfasst.“
Die Ergebnisse dieser richtungsweisenden Arbeit sorgten auch auf dem 3. Kongress der EAN in Amsterdam gleich mehrfach für Diskussionsstoff. Neben einer wissenschaftlichen Sitzung unter der Leitung von Prof. Oliver und Prof. de Visser, wurden die speziellen Bedürfnisse neurologischer Patienten auch in einem von der EAN und dem Dachverband der europäischen Patientenorganisationen EFNA gemeinsam organisierten Symposium erörtert.
Auch wenn es für die optimale, lebensbegleitende Palliativ-Betreuung kein Patentrezept gibt, konnten die Experten grundlegende Ansätze erarbeiten. Prof. Oliver: „Es gibt Evidenz, die zeigen, dass ein möglichst früher Beginn der palliativen Behandlung und ein multidisziplinärer Ansatz nicht nur die Symptome verbessern kann, sondern auch psychische Aspekte und die Situation der Pflegenden. Bei manchen Erkrankungen, die unaufhaltsam voranschreiten wie zum Beispiel ALS, beginnt die Palliativbetreuung schon damit, dass man die schlechte Nachricht der Diagnose überbringen muss. Das erfordert spezielle Fähigkeiten, wenn man es nicht gut macht, kann das verheerende Auswirkungen auf Patienten und ihre Angehörigen haben. Darüber hinaus ist aber auch eine verbesserte Kommunikation, die genaue Beurteilung und Behandlung der Symptome und eine verbesserte Ausbildung in den Prinzipien und Kenntnissen der Palliativmedizin wichtig.“
Betreuung nicht nur für Patienten, sondern auch Angehörige und Betreuer wichtig
Neben der vermehrten Zuwendung für die Patienten sei aber auch die Unterstützung aller involvierten Betreuer notwendig. „Die Betreuung von Palliativ-Patienten bedeutet immer physischen und emotionalen Stress. Das kann ohne angemessene Unterstützung auch Depressionen verursachen“, erklärt Prof. de Visser. „In vielen Fällen brauchen die Betreuer nach dem Tod psychologische Unterstützung bei der Trauerarbeit.“
Intensivierte Zusammenarbeit zwischen Neurologen und Palliativmedizinern
Für Neurologen, die nicht zuletzt wegen der immer älter werdenden Bevölkerung vermehrt mit unheilbaren Fällen konfrontiert sind, kommen diese Erkenntnisse zur rechten Zeit. „In ganz Europa“, weiß Prof. Oliver, „gibt es ein wachsendes Interesse und auch große Fortschritte bei diesem Thema. In vielen Fällen ist eine adäquate palliativmedizinische Betreuung nicht nur eine Frage der Ressourcen sondern eine der Einstellung. Wenn sich diese ändert, lassen sich oft kleine Veränderungen erzielen, die für die Patienten und ihre Familien sehr wichtig sind.“ Für Prof. Marianne de Visser ist die gemeinsame Arbeit nur der erste Schritt zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Neurologen und Palliativmedizinern: „Wir hoffen, dass dieses Konsensuspapier den Anstoß für weiterführende Diskussionen über die Rolle der Palliativmedizin in der Neurolgie liefert“, so die Spezialistin für neurmuskuläre Krankheiten.
In jedem Fall wollen die Experten beider Fachrichtungen die erfolgreiche Zusammenarbeit auch in Zukunft fortsetzen. „Das Konsensuspapier ist erst der Beginn einer sich weiter entwickelnden Zusammenarbeit zwischen der Palliativmedizin und der Neurologie“, so Prof. Oliver. So das Thema auch im nächsten Jahr auf dem EAN-Kongresses in Lissabon in einem von EAN und EAPC gemeinsam organisierten Symposium weiter vertieft und aktualisiert wird. „Wir wollen damit die Zusammenarbeit zum Wohl unserer Patienten betonen“, so Prof. de Visser. Davon, ist auch Prof. Oliver überzeugt, können beide Seiten nur profitieren: „Neurologen müssen ihr Wissen in Palliativmedizin erweitern. Umgekehrt brauchen aber auch die Spezialisten in Palliativmedizin mehr Expertise in Neurologie. Deshalb müssen wir uns auf beiden Seiten bewusst auf die Fachgebiete der jeweils anderen Seite einlassen und intensiv zusammenarbeiten.“
Quelle: Oliver DJ, Borasio GD, Caraceni A, de Visser M, Grisold W, Lorenzl S, Veronese S, Voltz R. A consensus review on the development of palliative care for patients with chronic and progressive neurological disease. Eur J Neurol 2016; doi:10.1111/ene.12889.
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