Wien (pts022/13.10.2017/13:00) – „Nicht alles, was in der Medizin machbar ist, sollte auch immer gemacht werden.“ Mit diesem Appell macht Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar (Klagenfurt), Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI), auf den Welt-Anästhesie-Tag am 16. Oktober aufmerksam. Jährlich erinnern an diesem Tag Organisationen in aller Welt an die erste erfolgreiche Äther-Narkose im Massachusetts General Hospital 1846 und klären über die vielfältigen Aktionsfelder der Anästhesie auf, die von der Narkose über Notfall- und Intensivmedizin bis zur Schmerz- und Palliativmedizin reichen. In diesem Jahr steht die Intensivmedizin im Fokus, und die österreichische Fachgesellschaft macht auf das sensible und immer mehr diskutierte Thema der Übertherapie am Ende des Lebens aufmerksam.
„Mit den modernen intensivmedizinischen Therapiemethoden kann man Patientinnen und Patienten sehr lange am Leben erhalten, die dann aber nicht gesund werden und weiterhin lebensbedrohlich krank bleiben. Dafür hat sich inzwischen ein eigener Fachbegriff etabliert, nämlich ‚chronisch kritisch krank’“, erklärt ÖGARI-Vorstandsmitglied Univ.-Prof. Dr. Barbara Friesenecker von der Universitätsklinik für Allgemeine und Chirurgische Intensivmedizin in Innsbruck. „Unser Ziel muss es aber immer sein, aus den technischen Möglichkeiten nur jene Optionen auszuwählen, die Patientinnen und Patienten tatsächlich eine Verlängerung des Lebens bei gleichzeitiger Verbesserung der Lebensqualität bringen können.“
Übertherapie schafft keinen Nutzen, verlängert das Sterben
Das Problem Übertherapie zieht sich quer durch die gesamte Intensivmedizin. Das kann bei der mitunter aussichtslosen Aufnahme auf die Intensivstation beginnen, bei der nicht selten praktizierten Überdiagnostik fortsetzen und letztlich im inadäquaten Einsatz maschineller Verfahren, teurer Medikamente und Therapien gipfeln. „Selbst wenn klar ist, dass ein kuratives Therapieziel nicht mehr erreicht werden kann, laufen die Maßnahmen oft weiter“, so Prof. Friesenecker. „In vielen Fällen wird dadurch aber nur das Sterben hinausgezögert. Man weiß mittlerweile, dass Patientinnen und Patienten, bei denen man frühzeitig palliativmedizinische Konzepte in die Behandlung mit einbezieht, und auf belastende, aber keinen Nutzen bringende verzichtet, manchmal sogar länger, aber mit Sicherheit besser, leben als jene, bei denen bis zur letzten Minute alles technisch Mögliche ausgeschöpft wird.“
Fast 40 Prozent erhalten am Lebensende Behandlungen, die keinen Vorteil bringen
In Fachkreisen wird das Thema auf der Basis einer zunehmenden Zahl an Studien verstärkt diskutiert. Ein Team aus Wissenschaftlern der University of New South Wales in Australien, die das Ausmaß sogenannter „non-beneficial treatments“, also nicht zielführender Behandlungen, in den letzten sechs Lebensmonaten untersucht hat, kam nach der Auswertung von 38 einschlägigen Studien kürzlich zu einem alarmierenden Ergebnis: 33 bis 38 Prozent der Patienten werden noch kurz vom dem Tod übertherapiert. Bei durchschnittlich 28 Prozent wird auch im fortgeschrittenen Stadium ihrer Krankheit noch versucht, sie wiederzubeleben, nahezu jeder Dritte erhält auch im Endstadium Dialyse, Bestrahlungen, Transfusionen oder andere unterstützende Behandlungen. 38 Prozent der sterbenden Patienten bekommen Antibiotika, herzstärkende Medikamente oder selbst verdauungsfördernde Präparate verabreicht, jeder Dritte eine Chemotherapie. Bei 33 bis 50 Prozent werden diagnostische Verfahren eingesetzt, die keinerlei Vorteil mehr bringen, zehn Prozent kommen auf eine Intensivstation, obwohl naheliegt, dass auch dort nur das Sterben verlängert werden kann. Die Conclusio der Studienautoren: „Auch wenn Übertherapie bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich ist, heißt das nicht, dass man nicht versuchen sollte, das derzeitige Ausmaß zu reduzieren die ärztliche Einstellung dazu kritisch zu überprüfen.“
Neue Ausbildungsschwerpunkte und öffentlicher Diskurs gefordert
„Was wir brauchen ist eine neue Humanisierung der Intensivmedizin“, fordert ÖGARI-Präsident Prof. Likar ein Umdenken. „Man tut oft mehr Gutes, indem man weniger tut. Etwas nicht zu tun erfordert oft mehr Courage und vor allem auch mehr Wissen, als alles zu tun, was die Medizin und Technik möglich machen,“ ergänzt Prof. Friesenecker. „Es gibt allerdings einen Mangel an Wissen darüber, wie und zu welchem Zeitpunkt wir das Therapieziel vom Konzept der Heilung in Richtung palliative Betreuung verändern sollten.“
Ebenso wichtig, betonen die Experten, sei es auch, einen öffentlichen Diskurs zu führen und die gesellschaftlichen Einstellungen zu hinterfragen. „Derzeit herrscht oft eine Erwartungshaltung, dass die Medizin immer und alles gut machen kann. Vor diesem Hintergrund ist es für Ärztinnen und Ärzte in krisenhaften Situationen oft einfacher, immer weitere Aktivitäten zu setzen als innezuhalten“, erklärt Prof. Friesenecker. „Sterben wird immer noch häufiger als Einbekenntnis des Scheiterns gesehen als ein zu jedem Leben gehörender Teil akzeptiert“.
Therapien zu unterlassen kann vor Gericht führen – sie durchzuführen aber auch
Dazu kommt die Sorge vor möglichen juristischen Konsequenzen. „In einigen Fällen sind die Kolleginnen und Kollegen mit Angehörigen konfrontiert, die sich mit dem bevorstehenden Tod ihrer Liebsten nicht abfinden wollen und verlangen, alle erdenklichen Maßnahmen fortzusetzen, die rein medizinisch betrachtet keinen Nutzen mehr bringen“, so Prof. Friesenecker. „Umgekehrt“, gibt Prof. Likar zu bedenken, „stellt die Anwendung unangenehmer und schmerzhafter Interventionen ohne Aussicht auf Besserung nicht nur ein ethisches Problem dar, sondern ist rechtlich eine Körperverletzung und kann gerichtlich geahndet werden.“
Bis 45 Prozent der Gesundheitskosten fallen am Lebensende an
Wenn Übertherapien Patienten chronisch kritisch krank machen, verursacht dies nicht nur sinnlos menschliches Leid und Frustration bei allen Beteiligten, sondern auch enorm hohe Kosten. Das lässt sich in Gesundheitsstatistiken nachlesen. Internationale Studien gehen davon aus, dass zwischen zehn und 45 Prozent der lebenslangen Gesundheitskosten im letzten Lebensjahr anfallen. Das hat nur begrenzt mit dem naturgemäß steigenden Pflegebedarf zu tun. In einer niederländischen Untersuchung lagen die Kosten für die Akutversorgung im letzten Lebensjahr um 170 Prozent höher als im Jahr davor, der Pflegeaufwand stieg dagegen nur um den Faktor 1,3. „Wenn wir hier auch unter ökonomischen Gesichtspunkten ein Umdenken fordern, geht es also überhaupt nicht darum, Therapiekosten bei schwer kranken Menschen einzusparen, sondern um einen sinnvollen Ressourceneinsatz im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit“, betont Prof. Likar.
Quellen: Cardona-Morrell et al. Non-beneficial treatments in hospital at the end of life: a systematic review on extent of the problem. International Journal for Quality in Health Care, 2016, 1-14; Pfleger et al. „Futility“. Übertherapie am Lebensende? Gründe für ausbleibende Therapiebegrenzung in Geriatrie und Intensivmedizin. Z Palliativmed 2008; 9: 67-75
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