Lissabon (pts010/18.06.2018/09:00) – Von zehn Patienten in Europa mit einer Erkrankung des Zentralnervensystems erhalten bis zu acht keine oder nur unzulängliche Behandlungen, obwohl es effektive Therapien gäbe. Was sind die Barrieren für eine optimale Behandlung? Wäre es wirklich unerschwinglich, Menschen mit neurologischen Erkrankungen bestmöglich medizinisch und psychosozial zu betreuen? Diesen Fragen geht „The Value of Treatment“ nach, eine große Studie des European Brain Council (EBC), die beim 4. Kongress der European Academy of Neurology (EAN) in Lissabon diskutiert wurde.
„Mit ‚The Value of Treatment‘ geben wir politischen Entscheidungsträgern eine Orientierungs- und Entscheidungshilfe an die Hand, die den Return on Investment bestimmter Behandlungen analysieren und kosteneffektive Lösungen für die neurologische Versorgung in ihrem Land finden müssen“, sagt Prof. Wolfgang Oertel (Marburg), Vizepräsident des EBC, der an der Studie mitgewirkt hat. Dabei geht es nicht nur um Diagnose und Therapie bestimmter Erkrankungen des Gehirns, sondern darum, wie nahtlose, integrierte Pflege- und Versorgungsmodelle aussehen können, die echten Nutzen für die Betroffenen stiften.
Neurologische und psychiatrische Erkrankungen kosten 800 Milliarden pro Jahr
Störungen des zentralen Nervensystems und Gehirns – mit eingeschlossen sind hier neurologische und psychiatrische Erkrankungen – betreffen laut European Brain Council derzeit ein Drittel der Menschen in Europa, das sind 179 Millionen Menschen, Tendenz weiter steigend. Schon jetzt schlagen sie mit enormen Summen zu Buche: Der European Brain Council schätzt sie auf 800 Milliarden Euro jährlich, wobei rund 40 Prozent auf indirekte Kosten entfallen dürften, darunter Arbeitsunfähigkeit, Einkommensverluste oder Steuerausfälle. Doch die enormen Summen, die allein in die Behandlung gesteckt werden, bringen oft nicht die gewünschte Wirkung, wie Prof. Oertel betonte: „Gesundheits- und Sozialsysteme sind oft mangelhaft organisiert oder hinken dem rasanten medizinischen Fortschritt hinterher.“
Das beste Beispiel seien jahrelange Fehldiagnosen oder Fehlbehandlungen. Hat ein Patient Pech, gerät er lange an keinen Spezialisten. Viele therapeutische Optionen für neurologische Erkrankungen, an denen Betroffene womöglich seit Jahrzehnten leiden, werden erst seit wenigen Jahren untersucht. Es verstreicht oft wertvolle Zeit – und bei neurologischen Krankheiten gilt nun einmal: „Time is brain“. „Tatsächlich stößt die ärztliche Kunst bei vielen neurologischen Erkrankungen an ihre Grenzen. Durch Früherkennung, einen frühzeitigen Behandlungsbeginn und präventive Maßnahmen ließen sich jedoch Risiken minimieren oder in manchen Fällen der Krankheitsverlauf verlangsamen“, berichtete Prof. Oertel.
Empfehlungen für patientenzentrierte Versorgung
Nach zwei Jahren Forschung liefert „The Value of Treatment“ (VoT) Empfehlungen, wie Betroffene besser und kosteneffizient versorgt werden könnten. In neun Fallstudien werden Probleme, aber auch patientenzentrierte Best-Practice-Beispiele im Umgang mit Alzheimer, Epilepsie, Kopfschmerz, Multiple Sklerose, Normaldruckhydrozephalus, Parkinson, Restless Legs Syndrom, Schizophrenie und Schlaganfall aufgezeigt. An der Studie wirkten hunderte Experten europäischer Fachgesellschaften – wie die EAN, EPA, ECNP, ENSA oder FENS – und von Patientenorganisationen (EFNA, GAMIAN) mit, die alle dem European Brain Council angehören, und nutzten Daten aus verschiedenen Staaten der WHO Europaregion ein, darunter Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Luxemburg, Russland, Schweden, der Schweiz, Spanien und Tschechien.
Der Bericht schätzt den Wert einzelner Behandlungen für bestimmte Patientengruppen ein und zieht dafür klinische Indikatoren und Patientendaten heran. Dabei wird der Nutzen der bestmöglichen Behandlung mit dem gängiger Standardversorgung oder – wenn angebracht – mit Nicht-Behandlung gegenübergestellt und die Gesundheits- und sozioökomischen Kosten verglichen. „Dabei kommt deutlich heraus, dass ein früher Behandlungsstart und optimale Versorgung langfristig am wenigsten kosten und Nicht-Behandlung die teuerste Variante ist, etwa bei Krankheiten wie Multiple Sklerose oder Epilepsie, die bereits junge Menschen betreffen“, so Prof. Maura Pugliatti von der Universität Ferrara in Italien.
Case Management statt nur Akutbehandlung
The „Value of Treatment“ zeigt anhand von Fallbeispielen, welchen Wert Behandlungen haben sollten – und wo sie oft nicht leisten, was sie sollten. Eine mitten im Leben stehende Schlaganfallpatientin schildert etwa, wie sie sich nach der Akutbehandlung alleingelassen gefühlt habe. Niemand habe mit ihr oder ihren Angehörigen über die nächsten Schritte gesprochen. Es wurde keine Rehabilitation eingeleitet oder ihre Situation zuhause oder am Arbeitsplatz hinterfragt. „Das würde mit einem guten Case Management nicht passieren“, sagte Prof. Oertel. „Es würde alles daran setzen, die Frau wieder auf die Beine zu bringen und ihr Umfeld bestmöglich zu unterstützen. Vielleicht ließe sich sogar ihr Arbeitsplatz erhalten. Das ist aufwändig, aber in der wirtschaftlichen Gesamtbetrachtung immer noch kosteneffizienter als Frühpensionierung und dauerhafte Behinderung im Alter von 45 Jahren.“
Andere Fallstudien analysieren die Situation von Patienten mit Restless Legs Syndrom (RLS), einer weit verbreiteten neurologischen Erkrankung. Etwa 2,7 Prozent der europäischen Bevölkerung leiden unter mittleren bis schweren Formen dieser Erkrankung, bei der schmerzhaften Empfindungen zu unkontrollierten Beinbewegungen führen und unter anderem für chronischen Schlafmangel verantwortlich sind. „RLS gehört zu den fünf wichtigsten Erkrankungen, was die ökonomische Krankheitslast betrifft“, so Prof. Oertel. Der Bericht beschreibt eine 67 Jahre alte RLS-Patientin, die ihre Diagnose erst Jahre nach Krankheitsausbruch erhalten hat. In der Folge wurden die Medikamente zu hoch dosiert, wodurch sich wiederum die Symptome verschlechterten.
„Wenn wir die Kosten von RLS und die Folgen der inadäquaten Behandlung von RLS berücksichtigen, hätte das substanzielle ökonomische Folgen, die weit über das hinausgehen, was wir derzeit in der Literatur an epidemiologischen Daten kennen“, so Vinciane Quoidbach, eine Forscherin beim EBC, die selbst stark in die VoT-Studie involviert war. Joke Jaarsma (Amsterdam), selbst RLS-Patientin und Präsidentin der EFNA ergänzt: „Wir müssen verstärkt über RLS aufklären, damit Behandler besser über die Diagnose und Therapie Bescheid wissen. Außerdem sollten die Suche nach den Ursachen von RLS und die Erforschung neuer Therapiestrategien intensiviert werden.“
Ein weiteres Beispiel aus VoT illustriert die Problematik der Versorgungslücken: Eine Migränepatientin schleicht sich jahrelang nachts in die Garage, um ihre Schmerzen herauszuschreien und ihre Kinder damit nicht zu belasten. „Das macht deutlich, was es bedeutet, wenn spezialisierte Einrichtungen definierte Behandlungspfade für bestimmte Krankheiten und Patientengruppen oder die soziale Unterstützung für Patienten und Angehörige fehlen“, so Prof. Oertel. Doch gerade Spezialambulanzen können dem Rotstift zum Opfer fallen, wenn es finanziell eng wird. „Im Zuge der anhaltenden Wirtschaft- und Finanzkrise ist in manchen Staaten der Zugang zu neurologischer Versorgung wegen Kürzungen oder Selbstbehalten generell schlechter geworden. Oft dauert es viel zu lange, bis Diagnosen korrekt gestellt und maßgeschneiderte Therapien eingeleitet werden – wenn sie überhaupt passieren“, fasste Prof. Oertel zusammen. Doch hier wird am falschen Platz gespart.
„The Value of Treatment“ unterstreicht faktenbasiert, wie wichtig Prävention und Früherkennung sind, und dass sich ein frühzeitiger Behandlungsstart gesundheitlich und ökonomisch rechnet: „Messbare Erfolge wie bessere Überlebensraten, weniger Komplikationen, seltenere Behinderungen, eine bessere Lebensqualität und nicht zuletzt geringere Behandlungskosten, lassen sich durch einen frühen Behandlungsbeginn erreichen – das alles wäre machbar“, so Prof. Oertel. 70 Prozent der Epilepsie-Patienten könnten beispielsweise mit entsprechender Medikation ein Leben ohne Anfälle und Einschränkungen führen, für die restlichen 30 Prozent stünden andere wirksame Therapie-Optionen zur Verfügung, zum Beispiel ein chirurgischer Eingriff.
„Doch das setzt eine geeignete Behandlung vom ersten Anfall an voraus, und zwar durch Spezialisten. Hier gibt es immer noch große, aber überbrückbare Versorgungslücken. Wir haben die humanitäre Verpflichtung, diese bei allen neurologischen Krankheiten so gut wie möglich zu schließen“, so der Experte.
Quelle: European Brain Council: The Value of Treatment: http://www.braincouncil.eu/activities/projects/the-value-of-treatment ; Gustavsson A et al. Cost of disorders of the brain in Europe 2010, Eur Psychopharmacology 2011, 21(10); Olesen et al, The economic cost of brain disorders in Europe, EurJNeurol 2012, 19(1); DiLuca et al. The cost of brain diseases: a burden or a challenge? Neuron 2014, 82(6)
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