TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom Dienstag, 21. November 2023, von Wolfgang Sablatnig: „Die große Leere in der Bildungspolitik“

Innsbruck, Wien (OTS) – Über Bildung muss gesprochen werden. Schon lange greift kein Minister mehr die Frage an, wie Schule die Kinder von heute auf das Leben von morgen vorbereiten kann. Aktivismus mit der Matura hilft aber auch nicht weiter. Das Argument der jungen Roten klingt logisch: Wer von der Volksschule bis zur Matura alle Prüfungen bestanden hat, braucht nicht am Ende noch einmal an einem „finalen Entscheidungstag“ alles unter Beweis stellen. Weg also mit dieser Matura, diesem „Relikt aus längst vergangenen Zeiten“. Stattdessen hin zu „praxisorientierten Projektarbeiten“ – klingt gut, bedarf aber noch konkreter Inhalte. Die Matura war die Eintrittskarte ins Bildungsbürgertum. Matura oder nicht – diese Frage entschied über Chancen im Leben und Beruf. Sie galt als erstrebenswertes Ziel des Aufstiegs oder als Symbol einer Gesellschaft, die unter sich bleiben will. In den Köpfen vieler mag die Reifeprüfung all das noch immer sein. Richtig ist das Bild nicht mehr. Wer heute Matura hat, hat es noch lange nicht geschafft. Öffnete früher das Maturazeugnis die Tür zu allen Hochschulen, sind heute die Aufnahmetests die wahre Hürde. Wer in die Medizin will, muss zuerst den MedAT schaffen. 11.700 Bewerberinnen und Bewerber österreichweit ritterten heuer um 1850 Studienplätze. Umgekehrt ist die gläserne Decke durchlässiger geworden. Nicht mehr nur die Gymnasiasten haben Zugang zur höheren Bildung. Die Schule ist auch nicht mehr geprägt von Professoren wie „Gott“ Kupfer, der im Roman von Friedrich Torberg den Schüler Kurt Gerber in den Selbstmord getrieben hat. Und schon lange Standard ist die „Vorwissenschaftliche Arbeit“, für welche die Jugendlichen ein Thema gründlich aufarbeiten, weit über einen „finalen Entscheidungstag“ hinaus. Von welchem „Relikt aus längst vergangenen Zeiten“ reden die jungen Roten also? Und dennoch hat die Sozialistische Jugend und mit ihr seit dem Wochenende die Wiener SPÖ Recht: Über Schule muss gesprochen werden. Zwar finden Anpassungen statt, etwa bei der Matura seit Corona mit dem Einrechnen der Abschlusszeugnisse in die Maturanoten. Schon lange trauen sich aber keine Regierung und kein Bildungsminister mehr über die Frage, wie Schule die Kinder von heute auf das Leben von morgen vorbereiten kann. Der aktuelle Ressortchef doktert stattdessen an den Semestern für die Lehrerausbildung herum. Auf diesen Missstand müsste hinweisen, wer wirklich an der Schule interessiert ist. Am Ende könnte dann auch eine Diskussion über Art und Weise der Matura stehen. Wer Debatte und Reform aber mit der Reifeprüfung beginnen will, steht im Verdacht, nur an der schnellen Schlagzeile interessiert zu sein. Davon wird das Bildungssystem jedoch um keinen Deut besser.

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