London (pts016/20.07.2016/10:00) – „Es wird zunehmend klar, dass neurologische Erkrankungen wie Schlaganfall oder Demenz, um nur einige zu nennen, in einem Ausmaß zunehmen werden, das unsere Gesundheitssysteme überfordern kann“, warnt Prof. Raad Shakir, Präsident der Weltföderation für Neurologie (WFN) anlässlich des am 22. Juli stattfindenden Welttages des Gehirns. Obwohl Experten seit langem warnen, werde dem Thema im öffentlichen Bewusstsein und vielerorts auch in der Politik nicht ausreichend Rechnung getragen. „Die steigende Lebenserwartung wird massive soziale, gesundheitliche und ökonomische Auswirkungen haben“, wird Prof. Shakir nicht müde zu betonen. „Die Gehirngesundheit wird zu den wichtigsten sozialen und ökonomischen Faktoren für ältere Menschen zählen.“
Aus diesem Grund hat die Weltföderation den Welttag des Gehirns in diesem Jahr unter das Motto „Gehirngesundheit in der älter werdenden Gesellschaft“ gestellt. „Unser Ziel“, so Prof. Shakir, „ist es, weltweit die Aufmerksamkeit für die Behandlung und die Vorbeugung neurologischer Erkrankungen zu erhöhen, an denen ältere Menschen leiden.“
Die Häufigkeit von Demenz, Schlaganfall oder Parkinson nehmen mit dem Alter zu. Experten gehen davon aus, dass zehn bis 20 Prozent der 60- bis 80-Jährigen an zumindest einer dieser Krankheiten leiden. Bei den über 80-Jährigen ist beinahe schon jeder Dritte betroffen. Und diese Altersgruppe wächst – und zwar weltweit. Stellen die über 60-Jährigen heute mit 800 Millionen noch 12 Prozent der Weltbevölkerung, gehen Demographen davon aus, dass es im Jahr 2050 bereits 21 Prozent, also mehr als zwei Milliarden Menschen, sein werden. In der Folge wird auch die Zahl der neurologischen Patienten deutlich ansteigen.
Vorbeugung forcieren
„Es ist Zeit zu handeln“, lautet daher der Appell des Vorsitzenden des Public Awareness Komitees der WFN, Prof. Mohammad Wasay. „Krankheiten, die das Gehirn betreffen, sind heute bereits die weltweit häufigste Ursache für Behinderungen. Ein Gutteil der Krankheitslast wäre aber vermeidbar, wenn wir uns verstärkt der Prävention widmen würden.“
Zwar sind Alter und genetische Prägungen die größten Risikofaktoren für Schlaganfälle und dementielle Erkrankungen, daneben gibt es aber solche, auf die jeder selbst Einfluss nehmen kann. So erhöhen etwa schon im mittleren Alter auftretender Bluthochdruck und erhöhte Blutzuckerwerte das Risiko, später an Alzheimer zu erkranken, um das Zwei- bis Dreifache. Prof. Wasay: „Die rechtzeitige Behandlung solcher Faktoren reduziert daher nicht nur das Risiko für Schlaganfälle, sondern auch für Demenz. Ein ausgewogener Speiseplan mit viel Blattgemüse, Obst und Fisch hilft, die Cholesterinwerte niedrig zu halten und das Risiko zu minimieren. Auf Nikotin zu verzichten ist in jedem Fall sinnvoll – auch wenn der spezielle Einfluss des Rauchens auf die Entwicklung von Demenz noch nicht endgültig geklärt ist.“
Neben gesunder Ernährung und ausreichender Bewegung ist es vor allem wichtig, das Gehirn mit neuen Reizen in Schwung zu halten. So verringert, wie eine im New England Journal of Medicine publizierte Studie zeigt, das häufige Spielen von Brettspielen das Demenzrisiko um 74 Prozent, intensives Lesen um 35 Prozent, das Spielen eines Musikinstruments um 69 Prozent und das Lösen von Kreuzworträtseln um 41 Prozent. „Bleiben Sie geistig aktiv und lernen Sie ein Leben lang: Schreiben Sie, lesen Sie, legen Sie Puzzles, besuchen Sie Aufführungen und Kurse, spielen Sie, gärtnern Sie oder lösen Sie Denksportaufgaben. Bleiben Sie sozial aktiv, engagieren Sie sich bei Freizeit- und Sozialaktivitäten, reisen Sie oder treten Sie einem Verein bei“, lauten Prof. Wasays wichtigste Ratschläge.
Dass ein aktiver Lebensstil nicht nur vorbeugen, sondern auch helfen kann, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen, zeigten kontrollierte Interventionsstudien wie FINGER (Finnish Geriatric Intervention Study to Prevent Cognitive Impairment and Disability). Eine multimodale Intervention bestehend aus Ernährungsempfehlungen, regelmäßiger Bewegung, kognitivem Training und einer engmaschigen Kontrolle von vaskulären Risikofaktoren erwies sich in dieser Untersuchung als effektiv, um die kognitive Funktion von Menschen mit einem Demenzrisiko zu erhalten oder zu verbessern.
Die Versorgungsstrukturen stärken
Der in Wien tätige Generalsekretär der WFN, Prof. Wolfgang Grisold, fordert einen weiteren Ausbau der Versorgungsstrukturen. „Die moderne Neurologie kann viel dazu beitragen, die Folgen der demographischen Entwicklung in den Griff zu bekommen. Die Gesundheitspolitiker aller Länder sind daher gut beraten, wenn sie die neurologische Versorgung ausbauen, anstatt ständig über die Last des Alters und der alten Menschen zu klagen.“ Die bei solchen Forderungen reflexartig vorgebrachten Hinweise auf knapper werdende Gesundheitsbudgets will der Experte nicht gelten lassen: „Den Aufwand für die Behandlung und Pflege unserer älteren Mitmenschen muss sich eine Gesellschaft einfach leisten. In dieser Hinsicht sind wir die Anwälte unserer Patientinnen und Patienten.“
Neben der Akutversorgung müssten auch die Rehabilitations- und Langzeitpflegeeinrichtungen ausgebaut werden. Eine wichtige Rolle würde dabei auch der Palliativmedizin zukommen: „Eine neurologisch orientierte Palliativmedizin kann über unterschiedlich lange Zeiträume die Auswirkungen eines unheilbaren Krankheitszustands abfedern. So kann auch Schwerkranken ohne Heilungsaussicht ein Stück Lebensqualität zurückgegeben werden“, betont Prof. Grisold.
WFN als Anwalt der Betroffenen
Angesichts der Tatsache, dass im Jahr 2025 rund 80 Prozent der älteren Bevölkerung in weniger entwickelten Weltregionen leben werden, will die WFN als Anwalt der Betroffenen künftig noch stärker für eine gerechtere Verteilung der globalen Ressourcen eintreten: „Obwohl wir in der Diagnostik und Therapie von neurologischen Erkrankungen große Fortschritte gemacht haben, bestehen erschreckenden Ungleichheiten in der Verfügbarkeit von Behandlungsmöglichkeiten. Viele Menschen auf der ganzen Welt haben entweder keinen oder unzureichenden Zugang zu neurologischer Versorgung“, kritisiert Prof. Grisold. So stehen beispielsweise in wohlhabenden Ländern durchschnittlich drei Neurologen pro 100.000 Einwohner zur Verfügung, in einkommensschwachen Ländern sind es dagegen nur 0,03.
Globale Anstrengungen im Kampf gegen Alzheimer
Zweifellos stellt die steigende Anzahl an Demenzerkrankungen eine der größten Herausforderungen dar. Im Dezember 2013 hatten die Führer der G8-Staaten noch erklärt: „Das Ziel ist es, dass bis zum Jahr 2025 eine Therapiemöglichkeit oder ein Heilmittel für Demenzerkrankungen gefunden ist. Um dieses Ziel zu erreichen, werden wir gemeinsam die Mittel für die Demenzforschung signifikant anheben.“
Im Jahr 2015 waren weltweit 47 Millionen Demenzkranke zu betreuen. Bis 2030 rechnen Experten schon mit 75 Millionen – und bis 2050 werden es bereits 131 Millionen sein. Das wird nicht zuletzt auch enorme ökonomische Folgen haben: Eine in Großbritannien, Schweden, Spanien und den USA durchgeführte Studie bezifferte die gesellschaftlichen Kosten für einen Demenzpatienten, der noch relativ selbstständig seinen Alltag bestreitet, auf rund 14.500 Euro pro Jahr. Sind die Betroffenen bereits auf institutionelle Pflege angewiesen, steigt dieser Betrag auf 72.500 Euro pro Jahr. In Summe verursachten allein die demenziellen Erkrankungen 2015 weltweit die enorme Summe von 818 Milliarden US-Dollar.
„Alle Alzheimerpatienten müssen, unabhängig von sozialen Ungleichheiten, Zugang zu verlässlichen und zeitnahen Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten haben“, fordert Prof. Gunhild Waldemar, Direktorin des Dänischen Demenzforschungszentrums in Kopenhagen. „Das gilt sowohl für Medikamente wie auch nicht-medikamentöse Behandlungsmethoden wie Psycho- oder Verhaltenstherapie, für deren positive Wirkungen es bereits klare Nachweise gibt.“
Zwar hat die biomedizinische Forschung bereits Einsichten in die grundlegenden Ursachen und die Pathogenese von Alzheimer gebracht. Zum wirklichen Durchbruch, so Prof. Waldemar, „bräuchten wir aber ein noch besseres Verständnis für die neurodegenerativen Mechanismen der Krankheit. Fest steht, dass Demenz keine zwingende Alterserscheinung ist. Die Hälfte der Menschen im Alter von 90 Jahren haben keine Gedächtnisstörungen“.
Die vergangenen Jahre hätten wichtige Fortschritte in der Versorgung von Demenzkranken sowie der Erforschung von Risikofaktoren und Vorsorgemöglichkeiten gebracht. „Wir sind bei der frühen Diagnose und den Prognosemöglichkeiten entscheidend weiter gekommen“, berichtet Prof. Waldemar. „Dank modernen Neuroimaging-Methoden haben wir auch vielversprechende Ergebnisse bei den Immunisierungsstrategien gegen Alzheimer erzielt. Dennoch ist es heute noch unmöglich, Alzheimer, die bei weitem häufigste Form von Demenz, zu heilen oder auch nur den Krankheitsverlauf zu stoppen.“
Um bei der Entwicklung neuer und effizienter Therapien voran zu kommen, wären Investitionen unvermeidlich. „Angesichts des ausbleibenden Fortschritts bei den Behandlungsmöglichkeiten und der steigenden Kosten durch Demenzfolgen, haben Politiker und Regierungen allen Grund, mehr Mittel für dieses wichtige Thema zur Verfügung zu stellen. Wir brauchen definitiv einen Durchbruch bei der Suche nach Alzheimer-Therapien, die wir für jeden Patienten individuell anpassen können und die in der Lage sind, den Beginn der Demenz hinauszuzögern.“
Für die notwendigen weiteren Forschungsarbeiten wünscht sich Prof. Waldemar ein konzertiertes internationales Vorgehen und entsprechend dotierte Etats. „Die Mittel für die pharmazeutische Forschung und klinische Studien müssen erhöht werden, um internationale Kohortenstudien und die Etablierung ethischer Standards und Rahmenbedingungen zu ermöglichen, die klinische Studien erleichtern und den Fortschritt beschleunigen.“
Weckruf im Auftrag der Gehirngesundheit
„Der Welttag des Gehinrs soll für Politik und Politiker in aller Welt ein Weckruf sein“, erklärt Prof. Shakir. „Ungeachtet der enormen Krankheitslast werden neurologische Erkrankungen weder auf nationaler noch internationaler Ebene in adäquatem Ausmaß auf der gesundheitspolitischen Agenda berücksichtigt. Ihre Belastungen werden weiterhin unterschätzt und zu wenig beachtet. Die Nachricht, die wir mit dem World Brain Day vermitteln wollen, ist klar: Die Prioritäten der Politik und der Finanzierung müssen sich ändern. Gehirngesundheit muss mit einer der höchsten Prioritäten behandelt werden. Neurologen müssen als Anwälte dieser Gehirngesundheit eine führende Rolle bei der Entwicklung neuer Ansätze zur Bewältigung der Folgen von neurologischen Krankheiten einnehmen.“
Eingeführt wurde der Welttag des Gehirns im Jahr 2014. Er widmet sich jedes Jahr einem anderen Schwerpunkt. Das Datum für diesen Tag ist dabei nicht zufällig gewählt. Der WFN wurde am 22. Juli 1957 in Brüssel gegründet.
119 nationale Gesellschaften und regionale Partner unterstützen die Kampagne
Die 119 nationalen Mitgliedsgesellschaften der Weltföderation für Neurologie und wichtige regionale Partner wie die Europäische Akademie für Neurologie verbreiten die Botschaft des Welttages des Gehinrs auf nationaler und internationaler Ebene mit diversen Veranstaltungen und Aufklärungsaktivitäten. Der WFN stellt Informationsmaterial wie Poster, Broschüren und Präsentationen zur Verfügung. Besonderer Fokus wird auf die Social Media-Kanäle gelegt.
Virtuelle Pressekonferenz
Video-Statements von Prof. Raad Shakir, Prof. Mohammad Wasay, Prof. Wolfgang Grisold und Prof. Gunhild Waldemar sind unter dem Link https://www.wfneurology.org/world-brain-day-2016 verfügbar.
(Ende)
Aussender: Bettschart & Kofler Kommunikationsberatungs GesmbH Ansprechpartner: Dr. Birgit Kofler Tel.: +49-172 7949286 E-Mail: kofler@bkkommunikation.com Website: www.wfneurology.org