Amsterdam (pts003/24.06.2017/09:00) – Ein starkes Bekenntnis zu Europa kommt von der European Academy of Neurology (EAN), die derzeit ihren 3. Kongress in Amsterdam abhält. „Ich bin besorgt über antieuropäische Tendenzen und eine kurzsichtige Beschränkung auf nationale Interessen, insbesondere bei Forschungsprojekten. Die weltweite Zunahme von neurologischen Erkrankungen ist wie der Klimawandel eine Herausforderung, die von keinem Land allein bewältigt werden kann“, betonte EAN-Präsident Prof. Dr. Günther Deuschl (Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Kiel). „Forschung per se steht und fällt mit internationaler Zusammenarbeit. Für die forschungsintensive Disziplin Neurologie gilt dies in besonderem Maße. Nur mit grenzüberschreitenden Anstrengungen lassen sich Krankheiten wie Schlaganfall, Demenz oder Parkinson besser verstehen und neue präventive, diagnostische, therapeutische und rehabilitative Antworten finden.“
Neurologische Erkrankungen in Europa: Über 220 Millionen betroffen
Tatsächlich entwickelt sich kaum ein anderes Fachgebiet derartig rasant. Das ist auch angesichts der steigenden Krankheitslast dringend nötig: Daten des European Brain Council zufolge leiden insgesamt 220,7 Millionen Menschen in Europa (1) an mindestens einer neurologischen Erkrankung – das sind mehr als die Einwohner von Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammen. Kopfschmerzen (152,8 Mio. Betroffene) führen die Liste der häufigsten neurologischen Leiden an, gefolgt von Schlafstörungen und -erkrankungen (44,9 Mio.), Schlaganfall (8,2 Mio.) und Demenzerkrankungen (6,3 Mio.). Viele neurologische Erkrankungen wie Schlaganfall, Demenz oder Morbus Parkinson haben eine Alterskomponente, ihre Häufigkeit nimmt also mit steigendem Alter deutlich zu. Laut Eurostat wird sich in der EU der Anteil der Bevölkerung über 65 Jahren bis zum Jahr 2060 verdoppeln und auf 52 Prozent anwachsen.
Neurologische Erkrankungen kosten 336 Milliarden Euro pro Jahr
Das hat enorm belastende Auswirkungen auf die Betroffenen, auf deren soziales Umfeld, die Gesellschaft und die Gesundheitssysteme. Viele neurologische Erkrankungen führen zu großem menschlichen Leid und schränken die Unabhängigkeit der Betroffenen ein, nicht zuletzt durch Behinderung und Pflegebedürftigkeit. Neurologische Erkrankungen sind daher auch empfindlich teuer. Mehr als 336 Milliarden Euro pro Jahr (2) machen die direkten und indirekten Kosten neurologischer Erkrankungen aus, das ist mehr als der gesamte deutsche Bundeshaushalt. Die drei teuersten Krankheiten sind Demenz (105 Milliarden Euro), gefolgt von Schlaganfall (64 Milliarden) und Kopfschmerzen (43 Milliarden). 122 Milliarden Euro entfallen jeweils auf Behandlungs- und direkte nichtmedizinische Kosten, 93 Milliarden auf indirekte Kosten, die beispielsweise durch Krankenstände und Frühpensionierungen entstehen. Auch gemessen in DALYs (3), einer Messgröße für die durch Krankheit und vorzeitigen Tod verlorenen Lebensjahre, sind neurologische Erkrankungen ein erheblicher Faktor. 2,2 Millionen DALYs in der EU (4) gehen auf das Konto von Demenzerkrankungen, 1,6 Millionen sind durch Schlaganfälle verursacht, 640.000 durch Parkinson und 260.000 durch Epilepsie.
EU-Mittel finanzieren 90 Prozent der grenzüberschreitenden Forschung
„Neurologie und Gesundheitspolitik haben hier ein gemeinsames Interesse. Europa müsste deutlich mehr für die Erforschung neurologischer Erkrankungen tun, um den Betroffenen Leid und den Sozialsystemen vermeidbare Ausgaben zu ersparen“, so Prof. Deuschl. Doch wie eine neuere Erhebung (Bouillon et al. Lancet, 2015; Deloitte report) zeigt, fließen von den 1.400 Milliarden Euro, die in den 28 EU-Staaten für Gesundheitsversorgung ausgegeben werden, nur vier Prozent in die Gesundheitsforschung. Und lediglich zwei Prozent der Forschungsausgaben kommen von EU-Fonds. Immerhin wird der Löwenanteil dieser EU-Gelder in transnationale Forschungsarbeit investiert, die für die neurologische Arbeit äußert wertvoll ist. „90 Prozent der grenzüberschreitenden Forschungszusammenarbeit wird durch die EU finanziert. Leider sind nur wenige öffentliche Förderstellen bereit, transnationale Projekte zu dotieren. Das ist sehr bedauerlich“, sagte EAN-Präsident Deuschl.
Denn viele Wissenschaftler bestätigen, wesentliche Anregungen durch grenzüberschreitende Forschungszusammenarbeit zu erhalten und von den Ansätzen und Erfahrungen anderer sehr zu profitieren. Objektivierbar ist der Nutzen von Multicenterstudien bereits in der Kardiologie: Ihr Impact-Faktor ist im Vergleich zu Singlecenterstudien mehr als doppelt so hoch. Auch wissenschaftliche Gründe sprechen für multinationale Forschungsnetzwerke: Multicenter-Studien lassen sich besser realisieren und liefern wesentliche Erkenntnisse über die klinische Praxis. EAN-Präsident Deuschl: „Ich hoffe für die Zukunft auf eine adäquat dotierte Forschungsförderung, die den Blick über den nationalen Tellerrand nicht nur erlaubt, sondern offensiv einfordert.“ Die Bedeutung einer gemeinsamen europäischen Forschungsanstrengung sei jüngst auch im „The Value of Treatment“ Report des European Brain Council bestätigt wurden, betont Prof. Deuschl: „Dieses Dokument ist ein klares Plädoyer für europäische Vernetzung und gemeinsame Forschungsplattformen zum Austausch von Daten und Ergebnissen, for strengthening the collaboration with European Reference Networks for Rare Diseases and for the development of Joint Actions and other EU initiatives.“
(1) Berechnung inkludiert EU-27 plus Schweiz, Norwegen und Island (2) Berechnung inkludiert EU-27 plus Schweiz, Norwegen und Island (3) Disability Adjusted Life Years: Die Zahl der verlorenen Lebensjahre durch vorzeitigen Tod kombiniert mit dem Verlust an Lebenszeit durch Behinderung (4) Erfasst sind die EU-27
Quellen: BrainFacts.org, Brain Disease in Europe, November 2013; Olesen et al.: The economic cost of brain disorders in Europe. European Journal of Neurology 2012, 19: 155-16; Wittchen et al, The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in europe 2010. European Neuropsychopharmacology 2011, 21: 655-679; Bouillon et al.: Public investment in biomedical research in Europe Lancet, 2015, Vol. 386, No. 10001, p1335; Deloitte Report: Investing in European health R&D. A pathway to sustained innovation and stronger economies. The Deloitte Health Economics Group, commissoned by Janssen Pharmaceutica NV, http://www.janssen-emea.com/sites/default/files/health-policy-centre/Investing%20in%20European%20health%20RnD.pdf EBC Research Project – The Value Of Treatment for brain disorders: Policy White Paper Towards Optimizing Research and Care For Brain Disorders
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