Zug (pts017/18.06.2021/12:45) – 2017 tritt Johan Rockström, der damalige Direktor des renommierten Stockholm Resilience Centers, auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos auf, um wichtigen Vertretern aus Politik und Ökonomie zwei Sachverhalte zu erklären: Zum einen die Gefährlichkeit exponentiellen Wachstums, zum anderen die Reduktion des CO2-Ausstoßes, auf den uns das Klimaabkommen von Paris 2015 verpflichtet. Wie wir inzwischen aus der Corona-Krise lernen mussten, wird ein Virus gefährlich, sobald der Reproduktionswert (R-Wert) über 1 liegt. Solange die absoluten Fallzahlen noch gering ausfallen, bleibt das Virus unter dem Radar, und man wiegt sich in falscher Sicherheit. Genauso verhielten wir uns seit Beginn der Industrialisierung im ausgehenden 18. Jahrhundert, genauso verhielten wir uns selbst noch in der Zeit der grossen Beschleunigung, Great Acceleration, seit den 1950er Jahren – bis der Club of Rome vor den’“Grenzen des Wachstums“ warnte und gleichzeitig zeigte, wie das anthropogene CO2 in der Atmosphäre zur globalen Erwärmung beiträgt.
Stellen Sie sich vor, man hätte bereits vor der grossen Beschleunigung die Grenzen unseres Planeten ernst genommen und voll auf Sonne, Wind und Wasser anstatt auf fossile Energieträger gesetzt. Wir hätten die Notbremse genug früh gezogen, wir hätten genug früh den fossilen Lockdown angesetzt und ständen nicht – wie heute – vor einem schier unlösbaren Problem. Klartext heisst: Wir haben Grenzwert für Klimagase in der Atmosphäre 1987 erreicht. Doch weder zuvor, noch irgendwann danach wurden drastische Massnahmen ergriffen. Und selbst heute ziert sich ein reiches Volk mitten in Europa mit dem grössten CO2-Ausstoss pro Kopf ein bisschen griffigere Massnahmen zu ergreifen. In der Corona-Terminologie gesprochen, haben wir selbst heute noch nicht den Peak erreicht, und der Reproduktionswert liegt noch immer über eins. Was bereits epidemiologisch unhaltbar ist, ist für unsere Biosphäre verheerend.
Der zweite Teil der Rede von Rockström bestand darin, den Mechanismus zur Zielerreichung des Pariser Klimaabkommens zu erklären. Dabei ging er von einem Emissionsbudget aus, das uns angeblich noch zustehe. Das dahinterliegende Erzählmuster geht weiterhin von einer Transition aus. So sollen wir allmählich aus den fossilen Energieträgern aussteigen. Oder wie es Rockström in Davos unterstreicht: Indem wir in jeder Dekade unseren Ausstoß halbieren, erreichen wir um 2050 das Nettoziel null. Erst danach fügt er noch an, dass es natürlich noch weiterer Anstrengungen bedarf, um spätestens ab der Mitte unseres Jahrhunderts aktiv CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen. Haben wir aus der Corona-Krise nicht ein neues, ein anderes Narrativ erlernt? Haben wir nicht erfahren müssen, dass Staaten, welche früh und drastisch intervenierten deutlich glimpflicher und erfolgreicher davongekommen sind, als solche, welche zögerlich reagierten? Im Unterschied zur Corona-Krise lässt sich aber das Klimaproblem nur global lösen. Diejenigen, welche in der Vergangenheit am meisten ausgestoßen haben, stehen zuerst in der Pflicht. Wir als ehemalige Industrieländer sind gefordert.
An Rockström kristallisiert sich am deutlichsten heraus, in welchem Dilemma sich die Wissenschaft heute befindet. Denn Rockström selbst legt zusammen mit einem breit ausgewiesenen internationalen Forschungsteam in einem der wichtigsten Beiträge der letzten zwanzig Jahre die planetaren Grenzen fest. Darin wird auch beschrieben, wie wir den „Safe Operating Space“ beim Überschreiten der 350 ppm CO2e an atmosphärischem Klimagasgehalt verlassen haben. Der ein und derselbe Wissenschaftler weiß also um die Grenzen, deren Überschreitung drastische Maßnahmen erfordern, erzählt aber gleichzeitig hauptsächlich nur die erste Hälfte der ganzen Geschichte vor den Akteuren aus Wirtschaft und Politik in Davos, um wahrscheinlich überhaupt ernst genommen zu werden und eine gangbare Transition vorzuzeichnen.
Mit fast der gleichen Präsentation unterstreicht Rockström an einer Konferenz der progressiven neuseeländischen New Frontiers, dass die Negativemissionen aktiv und differenziert angegangen werden müssen. Erstens hat sich die Landwirtschaft vom bisher grössten Klimagasemittenten zum größten Kohlenstoffrückbinder zu mutieren; zweitens ist über verarbeitete Biomasse aktiv CO2 der Atmosphäre zu entziehen; und drittens ist ein intensiverer Schutz von Naturräumen wie Wäldern und Sümpfen, Steppen und Wiesen voranzutreiben und durchzusetzen. Offenbar zögert die Wissenschaft weiterhin, die doppelte Herausforderung von Klimagas-Ausstoß-Verhinderung (Mitigation) und CO2-Rückbindung (Carbon Dioxide Removal) gleichzeitig und im selben Atemzug zu nennen, weil man befürchtet, dass Ersteres mit Zweitem verrechnet wird. Dass dann der Ausstoß beispielsweise einfach durch Aufforstung ‚kompensiert‘ wird, ohne grundsätzlich zu dekarbonisieren, indem die fossilen durch erneuerbare Energieträger konsequent ersetzt werden.
Es ist besser, wenn wir uns die ganze Geschichte vorknöpfen. Die ganze Geschichte wird auch davon handeln müssen, dass wir nicht nur keine Klimagase mehr ausstoßen dürfen, um unser Überleben zu sichern. Vielmehr muss gleichzeitig die atmosphärische Klimagaskonzentration wieder gesenkt werden. Dieses Unternehmen ist nochmals um Dimensionen gewaltiger als die Stabilisierung der atmosphärischen Klimagaskonzentration durch die Dekarbonisierung auf einem zu hohen Niveau auf über 420 ppm CO2e. Denn sobald der Atmosphäre CO2 entzogen wird und sich dessen Gehalt wirklich senken sollte, gibt in erster Linie die Biomasse und zweiter Linie die Gewässer den bisher absorbierten Kohlenstoff wieder frei. Wir können also nicht nur umrechnen, wieviel Gigatonnen wir pro ppm Reduktion zurückzubinden haben. Vielmehr ist der Gesamtausstoß, den wir seit 1987 in die Atmosphäre emittiert haben, wieder zurückzuholen. Das wären dann nicht 500 Gigatonnen, sondern weit über 1’000 Gigatonnen. Das entspricht mehr als dem Doppelten des Schweizer Luftraums. Dabei haben wir den zusätzlichen Klimaeffekt der weiteren Klimagase wie Methan oder Lachgas noch nicht einbezogen…
Vielleicht wagt Rockström noch nicht eine Senkung der atmosphärischen Klimagaskonzentration zu denken. Doch seine Erzählung hat sich deutlich verschärft. Es geht nicht mehr nur um eine Transition jenseits des Anthropozän („Beyond the Anthropocene“, wie sein Vortrag in Davos betitelt war), sondern um eine „Disruptive Tranformation“. Zwar mag der oder die Spitzfindige in dieser Wortkombination noch einen Widerspruch in sich selbst sehen. Wenn wir nicht disruptiv handeln, wird uns die Disruption automatisch einholen, so dass jede Transformation verloren geht.
Autor: Prof. Dr. Boris Previsic
Bei diesem Text handelt es sich um einen revidierten Vorabdruck aus dem geplanten Buch von Boris Previsic, das 2022 erscheinen soll. Genau vor einem Jahr erschien die Grundlage dazu unter dem Titel CO2: Fünf nach zwölf. Wie wir den Klimakollaps verhindern können beim Verlag Mandelbaum 2020, erhältlich im Buchhandel für rund 20 CHF.
Prof. Dr. Boris Previsic – Expert Voluntary Mentor für cleantech Energie Projekte, Co2 & Nachhaltigkeit Seit Mai 2021 ist er beratender expert voluntary Mentor für die CES Cleantech Energy Systems https://www.cleantech-energy-systems.org . Boris Previsic ist seit Februar 2020 Direktor des von ihm entwickelten Instituts Kulturen der Alpen https://www.kulturen-der-alpen.ch . Als Herausgeber der Gotthardfantasien (2016) hat er an seine frühere Tätigkeit im Bereich der Raumentwicklung in den Alpen angeknüpft, wo er bereits 2007 den Begriff der „Alpinen Brache“ in einem partizipativen Kunst- und Musikprojekt erledigt hat. Er leitet unter anderem das SNF-Projekt zum „Reduit und Gebirgskrieg“ und ist in Thinktanks zu Fragen der Biosphäre, der Energieproduktion, des Tourismus sowie der Land- und Forstwirtschaft aktiv. Als Autor des Buchs „CO2: Fünf nach zwölf. Wir wir den Klimakollaps verhindern können“ https://www.unilu.ch/fakultaeten/ksf/news/neuerscheinung-co2-fuenf-nach-zwoelf-5097 ist er gefragter Experte in Klimafragen. Seit 2015 ist Boris Previsic https://www.unilu.ch/personensuche/person/show/boris-previsic SNF-Förderprofessor für Literatur- und Kulturwissenschaften an der Universität Luzern und leitet das Projekt ‚Musikalische Paradigmen in Literatur und Kultur‘ mit einem Schwerpunkt im Zeitalter der Aufklärung und in der Gegenwart.
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